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Das Debakel der institutionellen Demokratie

Die NoFrontex-Abstimmung bringt nicht nur auf den Punkt, dass die institutionelle Politik und ihre Werkzeuge an Vorstellungskraft verloren haben, sondern allein dazu dienen, Angst zuschüren.

Von Selam Habtemariam, NoFrontex-Referendum und MSN

Die 500 Jahre des globalen Amoklaufs, bestehend aus Genozid, Eroberung, Ausplünderung, Ausbeutung und Verschmutzung der Erde war und ist ein riesiges, verderbendes Experiment, was auf die Kosten von Sicherheit und Wohlstand der globalen unterdrückten Mehrheit geführt wird. Laut ist die Geschichte und das zeitgenössische Erbe Europas, um darauf hinzuweisen, dass die Begegnungen zwischen Migrant:innen aus Global Sud und Global Nord einer ganz anderen Ethik unterliegen. Allein zwischen dem 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wanderten mindestens 62 Millionen Europäer:innen in kolonialisierte Gebiete auf der ganzen Welt ein, was nachhaltige Folgen für diese Territorien hatte. Diese Europäer:innen waren sogenannte Wirtschaftsmigrant:innen schlechthin, doch im auffälligen Gegensatz zu den tödlichen Kosten, die das Völkerrecht vielen Migrant:innen aus dem globalen Süden heute auferlegt, profitierten die europäischen Wirtschaftsmigrant:innen der Kolonialzeit von einem internationalen rechtlichen und imperialen Regime, das die weisse Wirtschaftsmigration erleichterte, förderte und feierte. Diese historische Perspektive offenbart die Ironie der heutigen Ausgrenzung von Migrant:innen aus dem Globalen Süden durch den Globalen Norden.

NoFrontex-Abstimmung: Legitimisierung der EU-Todespolitik durch Angst

Die NoFrontex-Abstimmung bringt nicht nur auf den Punkt, dass die institutionelle Politik und ihre Werkzeuge an Vorstellungskraft verloren haben, sondern allein dazu dienen, Angst zuschüren. Diese Politik treibt Europa in eine gefährliche, faschistische Richtung. Lebensbejahende und konstruktive Ideen und Ziele werden als unpragmatische Phantasien abgetan oder ignoriert. Hannah Arendt sagt hierzu, dass die effektivste Tyrannei ihre marginalisierten und unterdrückten Gegner:innen zerstört und alle anderen durch Angst und die Auslöschung der Privatsphäre entmündigt. Das Ziel effizienter totalitärer Staaten besteht nach dem Verständnis Vieler darin, ein Klima zu schaffen, in dem die Menschen nicht daran denken, sich aufzulehnen; ein Klima, in dem Inhaftierung und staatlich sanktionierter Mord nur gegen eine Handvoll unkontrollierbarer Abweichler:innen eingesetzt wird. Der Staat erlangt diese Kontrolle, indem er systematisch jede menschliche Spontaneität – und damit die menschliche Freiheit – durch Angst ausschaltet. Diese Angst und der Verlust der Spontaneität halten eine jede Bevölkerung traumatisiert, immobilisiert und verwandeln die Gerichte wie auch die gesetzgebenden Körperschaften in Mechanismen, die das Verbrechen des Staates legalisieren. Heute hat die Schweiz beschlossen, sich der Todespolitik der EU mit voller Überzeugung anzuschliessen. Was für eine Schande! Frontex wird für Gewalt und Mord mit mehr Geld, Personal und politischer Legitimität belohnt. Dies ist nicht überraschend, da Frontex zu den Hütern der neokolonialen Strukturen der weissen Vorherrschaft gehört.

Neokolonialismus: externe Kontrolle bei scheinbarer Souveränität

Das Wesentliche am Neokolonialismus ist, dass der ihm unterworfene Staat in Theorie unabhängig ist und alle äusserlichen Merkmale einer internationalen Souveränität besitzt. In Wirklichkeit werden jedoch Wirtschaftssystem und damit Politik von aussen gelenkt. Im neokolonialen Imperium geht es um Macht: Ein Staat, der sich im Griff des Neokolonialismus befindet, ist nicht in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen. Stattdessen erfolgt die externe Kontrolle durch neokoloniale Kräfte, die in wirtschaftlichen und finanziellen Vereinbarungen definiert sind. Globale Rohstoffpreise und heuchlerische Hilfe durch den Internationalen Währungsfonds (IWF), die Weltbank und ähnliche Institutionen bestärken eine neokoloniale Vorherrschaft. Diese wirtschaftlichen und finanziellen Regelungen legen direkte und indirekte politische Zwänge auf: Sie schränken die Steuer- und andere innenpolitische Massnahmen ein, die sich auf alles von der Gesundheitsversorgung bis zum Bergbau auswirken, und sie begrenzen den generellen politischen Spielraum, indem sie die wirtschaftlichen Ressourcen der ehemaligen Kolonialmächte kontrollieren.

«Würdige Opfer» und «unwürdige Opfer»

Der Staat und die herrschende Klasse teilen die Welt in würdige und unwürdige Opfer ein, in solche die wir bemitleiden dürfen, wie die Ukrainer:innen, die die Hölle der modernen Kriegsführung erleiden und in solche, deren Leiden heruntergespielt, abgetan oder ignoriert werden. Der Terror den Europa und seine Verbündeten gegen die irakische, palästinensische, syrische, libysche, somalische und jemenitische und, die an der Grenzen und im Meer getötete, inhaftierte und heftig kriminalisierte Zivilbevölkerung ausüben, ist Teil der bedauerlichen Kosten dieses imperialen Krieges. Machthaber:innen stellen Grenzagenturen und Streitkräfte immer als human dar, die dazu da seien die Bevölkerung zu beschützen. Kollateralschäden kommen vor, aber sie sind, wenn überhaupt, bedauerlich. Die Entstehung: ein Bruch zwischen den Leben, die leben dürfen und den leben, die sterben können – besser gesagt müssen. «Würdige» Opfer ermöglichen es Bürgern:innen, sich selbst als mitfühlend und gerecht zu sehen. «Würdige» Opfer sind ein wirksames Mittel zur Dämonisierung des Angreifers. Sie werden eingesetzt, um Nuancen und Zweideutigkeiten auszulöschen.

Das Anwachsen von rechten, autoritären, antidemokratischen und rechtsextremen Strömungen in ganz Europa kann auch als eine Folge dieser europäischen Grenzpolitik gesehen werden. Sie macht deutlich, dass eine Politik, die Migration als Gefahr versteht und deren Ziel es ist, Sicherheit vor dieser Gefahr zu gewährleisten, am besten von antidemokratischen und autoritären Regimen bedient wird.

Grenzen: Bewegungsfreiheit als Privileg

Die historische Konstruktion von Grenzen war alles andere als die Annahme des heutigen gesellschaftlichen Verständnisses von Grenzen als «normal, notwendig, neutral und natürlich». Die digitalisierte Grenze durch Grenzen und intellektuelle Industrieregime ist keine Lösung für die inhärente Gewalt des Kapitalismus, sondern die Konsolidierung der Hegemonie durch ausgeklügelte Gewalt gegen entrechtete Menschen. In einer weltweiten Rangliste von Reisepässen, die den Anspruch auf visumfreies Reisen aufzeigen, sind die Länder des Globalen Nordens an der Spitze und die Länder der Globalen Südens an unterster Stelle. Für viele entscheidet allein der Geburtsort darüber, ob das Überschreiten nationaler Grenzen eine Frage von Leben und Tod ist oder nicht. Und aufgrund der fortbestehenden rassenmässigen Demografie, die den Globalen Norden vom Globalen Süden unterscheidet – eine Demografie, die zu einem grossen Teil ein Produkt von Pässen, nationalen Grenzen und anderen erfolgreichen Institutionen ist, die teilweise als Technologien der rassenmässigen Ausgrenzung entstanden sind. Die Realität ist, dass die tödlichen Kosten der internationalen Mobilität weitgehend ein nicht-weisses Problem ist.

Perspektiven des Widerstands

Man kann Macht nicht bekämpfen, wenn man sie nicht versteht. Und man kann sie nicht verstehen, wenn man sie nicht erlebt und dann untersucht. Wir leben in einem System, das nicht in der Lage ist, sich selbst zu reformieren. Der erste Schritt zur Beseitigung dieses Systems ist die Beseitigung der Ideen, die ihm Legitimität verleihen.

Solidarität entsteht, indem wir die Fähigkeit entwickeln die Unmenschlichkeit, die in der stillschweigenden oder aktiven Beteiligung an den Unterdrückungsmechanismen und Strukturen anderer bestehen, als Beleidigung für unsere eigene Integrität zu verstehen. Aus der Erkenntnis, dass unsere Befreiung, wohl oder übel, mit der jedes anderen Wesens auf diesem Planeten verbunden ist, und dass wir politisch wissen, dass alles andere unerschwinglich ist.

Diese seltsame Mischung aus Düsternis und Hoffnung, aus Trotz und Resignation, aus Absurdität und Sinnhaftigkeit entspringt der Ehrfurcht des Rebellen vor der Grösse der zu besiegenden Kräfte und den geringen Erfolgsaussichten. «Hoffnung ist definitiv nicht dasselbe wie Optimismus», schrieb Havel, «es ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgehen wird, sondern die Gewissheit, dass etwas einen Sinn hat, unabhängig davon, wie es ausgeht.»