Zum Inhalt springen

Ein Feigenblatt: Das Frontex-Rechenschaftssystem

Die Grenzschutzagentur Frontex verfügt über eine Vielzahl von Kontrollmechanismen, die formell die Einhaltung der Grundrechte garantieren sollten. In der Realität führen diese jedoch weder zu einer verbindlichen Rechenschaftspflicht noch zu einer effektiven Kontrolle der Arbeit an den Grenzen. Vielmehr werden sie als Feigenblätter genutzt und helfen mit, Menschenrechtsverletzungen zu verschleiern und damit zu ermöglich.

Von Lena Karamanidou, Migrationsforscherin

Seit 2011 hat Frontex mehrere Rechenschaftsmechanismen eingerichtet, um den verbreiteten Bedenken hinsichtlich der Menschenrechtsbilanz der Agentur Rechnung zu tragen. Folgende Rechenschaftsmechanismen existieren:

Die kollektive Funktion der sechs Rechenschaftsmechanismen besteht darin, Grundrechtsverletzungen im Zusammenhang mit der Tätigkeit von Frontex zu überwachen und zu melden und die Einhaltung der Grundrechtsverpflichtungen zu stärken. Zusätzlich zu diesen internen Verwaltungsmechanismen ist Frontex gegenüber anderen Institutionen wie dem Europäischen Parlament, dem Rat und den Gerichten rechenschaftspflichtig.

Rechenschaftsmechanismen als Feigenblatt

Die Wirksamkeit der Menschenrechtsmechanismen und das System der Rechenschaftspflicht von Frontex wurde schon immer in Frage gestellt (Bsp: Report von Human Rights Watch, Investigativbericht von Correctiv oder Studie von Migreurop). Im Laufe der Berichterstattung rund um Frontex in den letzten Jahren wurde deutlicher denn je, dass die Rechenschaftspflicht wie ein Feigenblatt wirkt. Anstatt Verstösse und Gewalt an den Grenzen der Europäischen Union zu dokumentieren, verschleiert es diese. Anstatt Gewalt zu verhindern – vorausgesetzt, dies ist möglich, da institutionalisierte Grenzen von Natur aus gewalttätig und rassistisch sind – wurde  das System dazu benutzt, Frontex von jeglichem Fehlverhalten zu entlasten und die von der EU und ihren Mitgliedstaaten verübten Gewalt und Verstösse zu legitimieren.

Das zeigte sich zum Beispiel dadurch, dass die von Mechanismen wie dem System zur Meldung schwerwiegender Zwischenfälle produzierten Informationen dazu verwendet wurden, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen herunterzuspielen. Im Jahr 2017 begründete der Exekutivdirektor Fabrice Leggeri seine Ablehnung von Empfehlungen des Konsultativforums und des Grundrechtsbeauftragten damit, dass es nur drei Berichte über schwerwiegende Vorfälle in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen gab. Zudem haben nationale Regierungen (z.B. Griechenland und Ungarn) mit dem Ausbleiben gemeldeter Verstösse durch Frontex argumentiert, um illegale Praktiken an ihren Grenzen zu leugnen. Als im Jahr 2020 Abgeordnete des Europäischen Parlaments Besorgnis über Schiesserein und Todesfälle äusserten, antwortete Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit dem Hinweis, dass es keine Berichte über schwerwiegende Zwischenfälle gebe. Innerhalb von Frontex war jedoch seit Jahren bekannt, dass nur sehr wenige Berichte über Menschenrechtsverletzungen von Frontex-Beamt:innen eingereicht wurden. Wenn sie eingereicht wurden, wurden sie manchmal fälschlicherweise in anderen Kategorien als Menschenrechtsverletzungen eingeordnet. Der FRO wurde nicht immer informiert. Heute wissen wir, dass es eine Kultur der Entmutigung bei der Einreichung von SIRs gab. Dennoch wurde dieses mangelhafte System von Frontex und EU-Akteuren als Beweis genutzt, um Bedenken über Menschenrechtsverletzungen und Gewalt an den europäischen Grenzen abzutun oder zu leugnen.

Interne Kontrollorgane ohne reale Macht

Umgekehrt wurden die Beiträge von Mechanismen wie dem Beratenden Forum und dem Grundrechtebüro ignoriert, wenn sie für die von Frontex bevorzugte Vorgehensweise ungeeignet waren. Möglich wird das durch die Gestaltung dieser Mechanismen: Das Beratungsforum ist lediglich ein beratendes Gremium, während der Grundrechtsbeauftragte zwar bei der Erfüllung seiner Aufgaben unabhängig ist, aber keine Entscheidungsbefugnis hat. Es ist letztendlich der Exekutivdirektor, der entscheidet – und in gewissem Masse auch der Verwaltungsrat, der sich aus Vertreter:innen der Innenministerien und des Grenzschutzes der Mitgliedstaaten sowie Vertreter:innen der Europäischen Kommission zusammensetzt. Als das Konsultativforum Frontex empfahl, sich wegen den schweren und weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen, wie mangelnder Zugang zu Asyl und der Verletzung vom Grundsatz der Nichtzurückweisung, von den Operationen in Ungarn zurückziehen, tat Frontex nichts. Erst nach einer Entscheidung des Gerichtshofs beschloss Frontex, sich von den Operationen an den ungarischen Grenzen zurückzuziehen, auch wenn sie weiterhin an Rückführungsaktionen teilnahm. Auch die Empfehlungen des Grundrechtsbeauftragten zu den Soforteinsätzen 2020 in Evros und in der Ägäis, in denen Bedenken hinsichtlich der Einhaltung der Menschenrechte geäussert wurden, wurden nicht umgesetzt. Der neu ernannte Grundrechtsbeauftragte, Jonas Grimhe, hat kürzlich betont, dass seine Empfehlungen berücksichtigt werden sollten.

Es gab viele weitere Hinweise darauf, dass die Rechenschaftspflicht im Bereich der Menschenrechte nie zu den Prioritäten der Agentur gehörte. Beide Mechanismen, insbesondere der FRO, waren nur unzureichend ausgestattet. Im Januar 2021 zog PICUM, eines der Mitglieder des Konsultativforums, seine Mitgliedschaft zurück und begründete dies mit Bedenken hinsichtlich der Menschenrechtsbilanz von Frontex und der Zusammenarbeit zwischen dem Forum und der Agentur. Es wurde offensichtlich, dass es viele Spannungen zwischen dem Exekutivdirektor Fabrice Leggeri und dem Grundrechtsbüro gab: unter anderem Widerstand gegen die Unabhängigkeit und den Ausbau der FRO, die in der Frontex-Verordnung vorgesehen sind, sowie Missstände und Verzögerungen bei der Einstellung von Grundrechtsbeobachter:innen und einer neuen Grundrechtsbeauftragten. Wenn Frontex mit Menschenrechtskritik konfrontiert wird, wird dem oft mit dem Vorhandensein von Überwachungs- und Rechenschaftsmechanismen entgegnet (Bsp: Parlament, Fabrice Leggeri). Aber in der Praxis werden die von ihnen produzierten Informationen instrumentalisiert oder ignoriert. Möglich ist das wegen dem Ungleichgewicht der Befugnisse im rechtlichen Rahmen von Frontex.

Abwälzung der Verantwortung auf Mitgliedstaaten

Ausserdem entzieht sich Frontex seiner Rechenschaftspflicht, indem es die Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen auf die Grenzschutzbeamten der Mitgliedstaaten abwälzt. Wie bereits häufig argumentiert wurde, ist es äusserst schwierig, Frontex für die Begehung von oder die Mitschuld an Menschenrechtsverletzungen verantwortlich zu machen. Aus rechtlicher Sicht besteht das Hauptproblem darin, dass Akteure an Einsätzen, bei denen es zu Menschenrechtsverletzungen kommt, beteiligt sind – so zum Beispiel von Frontex entsandte Beamt:innen, nationale Beamt:innen oder nationale Kommandos. Die Verantwortung der einzelnen Beteiligten ist schwer festzustellen, da diese oft von intransparenten, operativen Absprachen und Entscheidungen abhängig ist. Frontex hat stets argumentiert, dass die Verantwortung für Grundrechtsverletzungen in erster Linie bei den nationalen Einsatzkräften liegt, da diese die Einsatzleitung innehaben. Frontex habe nur wenige Befugnisse gegenüber den nationalen Behörden. Dieses Argument war zentral Zusammenhang mit Push-Backs in der Ägäis mit Frontex-Beteiligung. Zwar kann man argumentieren, dass Frontex eine gewisse Verantwortung für Verstösse in ihren Einsatzgebieten trägt. Gleichzeitig ist Frontex aber abhängig davon, dass die nationalen Regierungen ihr eigenes Fehlverhalten untersuchen. Dieser Hintergrund verstärkt das Fehlen einer funktionierenden Rechenschaftspflicht. Es überrascht nicht, dass die nationalen Behörden dazu neigen, sich selbst zu entlasten. Das zeigen nicht zuletzt Kommunikationsfragmente aus der Untersuchung des Verwaltungsrats auf.

Fehlende Unabhängigkeit interner Untersuchungen

Die Untersuchung des Verwaltungsrats, die als Reaktion auf die mediale Berichterstattung durchgeführt wurde, verdeutlichte die Abhängigkeit von internen Rechenschaftsregelungen und nationalen Behörden. Wie die zuvor erwähnten Überwachungs- und Rechenschaftsmechanismen ist auch der Verwaltungsrat ein internes Leitungsorgan. Die Untersuchung wurde – mit Ausnahme eines Kommissionsvertreters – von Vertreter:innen der nationalen Organisationen durchgeführt, die mit Frontex die Aussengrenzen schützen. Die geprüften Informationen stammten von Frontex und den nationalen Behörden selbst, ohne externe Überprüfung. Auf Grundlage dieser Informationen wurde Frontex entlastet. Obwohl einige der Pushback-Vorfälle in der Ägäis auf Menschenrechtsverletzungen durch die griechische Küstenwache hindeuteten, wurden fast alle Vorfälle geschlossen. Die zweite grosse Untersuchung von Frontex, die von einer Arbeitsgruppe des LIBE-Ausschusses (LIBE = Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres) des Europäischen Parlaments durchgeführt wurde, war ein weitaus strengeres, öffentliches Verfahren. Dabei wurden eine Reihe von externen Akteuren zu den Anhörungen eingeladen wurden – Journalist:innen, Menschenrechtsorganisationen und akademische Expert:innen. In beiden Untersuchungen wurde Frontex von einer «direkten Beteiligung» an Menschenrechtsverletzungen freigesprochen. Das obwohl die FSWG-Untersuchung (FSWG = Frontex Scrutiny Working Group) ergab, dass Frontex von Menschenrechtsverletzungen wusste aber nichts unternahm.

Kein Raum für grundlegende Veränderungen

Ähnlich wie durch die bestehenden Mechanismen entstand durch diese Untersuchungen die Illusion von funktionierender Rechenschaftspflicht. Viel Aufmerksamkeit und Schuld wurde auf eine Person, den Exekutivdirektor Fabrice Leggeri, gelenkt. Und nicht auf den rechtlichen Rahmen, die Politik oder die Praktiken, die zu Verstössen und einem Versagen der Rechenschaftspflicht führen – also jene Struktur, die den Exekutivdirektor mit so viel Macht ausstattet. Beide Untersuchungen schlugen kleinere Reformen der Mechanismen und Praktiken vor, um die Rechenschaftspflicht zu verbessern. Das aber ohne strukturelle Änderungen zu fordern, die eine Reform des Rechtsrahmens erforderlich machen würden. Einer der grössten Schwachpunkte des Systems der Rechenschaftspflicht besteht jedoch gerade darin, dass es sich auf Mechanismen stützt, die Frontex-intern und rechtlich gesehen nicht unabhängig sind. Zusammengefasst ist Frontex also damit beauftragt, sich an den Aktivitäten zu beteiligen, die zu Menschenrechtsverletzungen führen ABER diese gleichzeitig auch zu überwachen, zu melden und zu verhindern. Wir haben gesehen, dass das zweite Ziel für Frontex, aber auch für die EU und die Mitgliedstaaten, weit weniger wichtig war als das erste.

Dies wurde in den Untersuchungen deutlich. Diese zeigten, dass es im derzeitigen politischen Umfeld, sprich in den politischen Entscheidungsgremien der EU und der Mitgliedstaaten selbst, wenig Potenzial auf eine radikale Reform von Frontex gibt – und noch weniger auf einen finanziellen Rückbau oder gar deren Abschaffung. Die parlamentarische Untersuchung wurde aufgrund der Einwände einiger Fraktionen als Arbeitsgruppe «Kontrolle» und nicht als vollständige parlamentarische Untersuchung eingerichtet. In einer der Sitzungen kommentierte Kommissarin Ylva Johansson die Ergebnisse der Untersuchung des Verwaltungsrats. Demnach gebe es keine Beweise dafür, dass Frontex in Pushbacks verwickelt ist. Sie ging sogar so weit zu sagen, dass dies «das Ergebnis ist, das wir erwartet haben», weil «eine EU-Agentur keine Grundrechte verletzen sollte».

Das ist keine Überraschung: Frontex ist eine Vorzeigeinstitution für das Projekt der EUropäisierung des Grenzschutzes in Europa. Die Überzeugung, dass die Präsenz von Frontex notwendig ist, um sicherzustellen, dass die Menschenrechte an den Aussengrenzen geachtet und Verstösse überwacht und gemeldet werden, ist trotz aller gegenteiligen Beweise weit verbreitet. So stellen die Untersuchungen und die umfassenderen Regelungen zur Rechenschaftspflicht die Daseinsberechtigung von Frontex nicht in Frage, sondern fungieren als Feigenblätter. Diese erwecken den Eindruck, dass die Mängel der Agentur durch die vorgeschlagenen geringfügigen Reformen behoben werden. Und sie erhalten den Mythos von Frontex als eine Kraft des Guten an den EU-Grenzen – statt als aktiver Bestandteil der unvermeidlichen Grenzgewalt