Defund Frontex: eine abolitionistische Perspektive
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Von Defund zu Abolish.
Frontex, die europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, die 2005 gegründet wurde, mit dem Auftrag, die EU-Mitgliedstaaten bei der Sicherung, Überwachung und Kontrolle der Aussengrenzen und Rückführung von illegalisierten Migrant:innen zu unterstützen, wurde in den letzten Jahren mit Bezug auf das Budget sowie die Kompetenz massiv aufgestockt. Für den Zeitraum 2021 bis 2027 soll das Budget von Frontex auf 11 Milliarden erhöht und eine Reserve von 10’000 Grenzschutzbeamt:innen aufgebaut werden. So bildet sich eine europäische Polizeieinheit als ein weiterer Arm eines tödlichen und militarisierten «Border Industrial Complex», also eines industriellen Grenzkomplexes.
Warum sollten wir uns diesem Ausbau des industriellen und tödlichen Grenzkomplexes entschieden entgegenstellen? Warum sollte Frontex defunded werden? Zehntausende Menschen sind durch die tödliche Politik des europäischen Grenzregimes in den letzten Jahren ums Leben gekommen. Tausende werden jährlich abgeschoben, inhaftiert und massiv kriminalisiert, ihrer Bewegungsfreiheit beraubt, ihres Menschseins. Achille Mbembe führt dafür den Begriff der «Nekropolitik» ein – einer Todespolitik. Die von Frontex ist nötig, ja notwendig, weil postkolonial-nationalstaatliche Konfigurationen und supranationale Grenzregime das fundamentale Recht, Rechte zu haben, um es mit Hannah Arendt zu sagen, systematisch verunmöglichen und demontieren.
Defund, eine Forderung, die besonders durch die globalen Black Lives Matter Proteste aus dem letzten Sommer an politischer Aufmerksamkeit gewonnen hat, meint dabei zum einen, Ressourcen – also finanzielle, politische, aber auch imaginäre – aus Institutionen staatlicher und supranationaler Gewalt, also wie auch Frontex, abzuziehen und in Institutionen und Strukturen der radikalen gesellschaftlichen Teilhabe – also wie beispielsweise sozialen Wohnungsbau, Gesundheitsversorgung, de-koloniale Bildung und Strukturen der Unterstützung für alle – zu investieren. Es geht also darum, Institutionen und Strukturen der Gewalt abzubauen und Strukturen der radikalen gesellschaftlichen Teilhabe für alle und über Staatsbürger:innenschaft hinaus auszubauen und zu stärken. Dies beinhaltet unter anderem die Entkriminalisierung von Armut, die Entkriminalisierung von Migration und eine Ermöglichung des Bewegungsrechtes für alle – der Ermöglichung des Rechtes, zu bleiben sowie zu gehen und dem Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe. Damit ist Defund Teil von abolutionistischer Politik im Sinne eines Zurückdrängens und Abbauens von Strafregimen und Institutionen wie Lagern, Gefängnissen, Polizeien und weiteren Institutionen staatlicher und extralegaler Gewalt.
Abolitionismus bedeutet dabei aber nicht einfach die Abschaffung von gewaltförmigen und strafenden Institutionen, sondern die kreative Entwicklung neuer und radikal demokratischer Institutionen und Strukturen sozialer Gerechtigkeit. Ausgehend von den Kämpfen gegen Versklavung und den Kolonialismus geht es bei Abolitionismus jedoch auch um die radikale Transformation unserer gesellschaftlichen Lebens-, Beziehungs- und Produktionsweisen. Abolitionistische Perspektiven gehen, wie auch in den Kämpfen gegen die Versklavung, davon aus, dass entmenschlichende Produktionsweisen wie die Plantagenökonomie und gewaltvolle Institutionen wie das Gefängnis, das Lager oder eben auch Frontex nicht reformiert gehören, also nicht einfach besser gemacht werden können, sondern abgeschafft werden müssen. Damit geht Abolitionismus auch über Diskurse der Menschenrechte und des Humanitarismus hinaus – unter anderem, weil Menschen aus den ehemaligen Kolonien historisch wie oft auch gegenwärtig aus diesem Diskurs ausgeschlossen werden. Selbst die Genfer Flüchtlingskonvention entstand in einem kolonialen Kontext und es wurde über die «Kolonialklausel» versucht, Personengruppen aus den ehemaligen Kolonien auszuschliessen.
Heutige Konjunkturen der Flucht und Migration sowie rassistische Grenz- und Ausbeutungsregime können zudem nicht von den Wirkweise und Kontinuitäten – also von dem Fortbestehen kolonialer Eroberungsprojekte und globaler ratifizierte sozialer Ungleichheit, neokolonialen Kriegspolitiken und Ausbeutung, Extraktivismus und Umweltrassismus sowie der unterschiedlich verteilten Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels, der vor allem durch die Industrienationen weiter vorangetrieben wird – losgelöst werden. Abolitionistische Perspektiven verweisen mit Konzepten wie dem Schwarzen Mittelmeer beispielsweise darauf, dass das rassistische Grenzregime in einem historischen Zusammenhang steht mit der Geschichte des transatlantischen Versklavungshandels, dem europäischen Kolonialismus und den postkolonialen globalen Ungleichheiten und Ausbeutungsprojekten, die auch durch Grenzregime abgesichert werden. Vor diesem Hintergrund geht es bei Defund Frontex nicht einfach um eine Frage von Menschenrechten oder um den Appell an «europäische Werte», die dabei selbst das europäische Projekt reproduzieren, sondern um eine radikale und praktische Auseinandersetzung und Kritik an der Kolonialität Europas und seinen normativen und politischen Konzepten wie «Staatsbürger:innenschaft» oder «Nation». Damit zielt Abolitionismus nicht einfach auf die Abschaffung von Grenzregimen, dem Lager, Frontex oder der Polizei, sondern auf die radikale Transformation der Bedingungen, gesellschaftlichen Produktions- und Beziehungsweisen und politischen Institutionen, die diesen gewaltvollen Normalzustand und diese Todespolitiken erst möglich machen.
Abolitionismus lädt uns dazu ein, Welten zu ermöglichen, die lebensbejahend sind, wie Ruth Wilson Gilmore erklärt: “It is about building life-affirming institutions”. Dabei finden sich abolitionistische Projekte bereits in den vielen und langjährigen Widerständen von besonders selbstorganisierten Geflüchteten-Initiativen und Unterstützer:innen wie der Sans-Papiers-Bewegung, Gruppen wie Refugees for Refugees, dem Migrant Solidarity Network oder Women in Exile und ihren Widerständen gegen Lager, die Isolation, Grenzregime, Kämpfen für Unterstützungsstrukturen, Gesundheitsversorgung, gut bezahlte Arbeit, Bewegungsfreiheit und ein würdevolles Leben. Abolitionismus findet damit im Kleinen jeden Tag statt.
Als Angela Davis im Jahre 2015 auf gemeinsame aktivistische Einladung nach Berlin kam, um aktivistische Gruppen zu treffen, erklärte sie nach ihrem Besuch in der damals von geflüchteten Personen besetzten Ohlauer Schule, dass die Refugee-Bewegung die Bewegung des 21. Jahrhunderts sei, da sie die grundlegenden Kämpfe unserer Zeit gegen verschränkte Todespolitiken zusammenbringt und erlaubt, Welten neu und für alle zu schaffen. Sie verweist in diesem Zusammenhang auf die internationalen Formationen der Refugee-Movements und besonders auf die Kämpfe mehrfach-marginalisierter geflüchteter Personen, also geflüchteter Frauen und geflüchteter nicht-binärer und Transpersonen, auf ihre verschränkten Forderungen nach Bewegungsfreiheit, das Recht auf Wohnen, Zugang zu medizinischer Versorgung, die Infragestellung nationaler Grenzen und nationaler Zugehörigkeiten und die Verknüpfung von sozialer Wohlfahrt mit dem Nationalstaat und seinen rassistischen und vergeschlechtlichten Ausschlussprozesse. Die Forderung nach einem guten Leben gegen vergeschlechtliche, interpersonelle und staatliche Gewalt und gegen die Reproduktion von vergeschlechtlichten Ausbeutungsverhältnissen, den Ausbau von Regimen der Versicherheitlichung, die Kritik an bis heute nachwirkenden kolonialen Strukturen und Politiken des Krieges und der Enteignung. Kämpfe um soziale, politische, ökologische und reproduktive Gerechtigkeit und Umverteilung und gegen die Reproduktion von Menschen als «überflüssig».
Also Davis hat ganz gut deutlich gemacht, dass alle diese Kämpfe in den Widerständen von besonders geflüchteten Menschen zu finden sind und hat praktisch deswegen die Kämpfe der Refugees und Migrant:innen als die Bewegung des 21. Jahrhunderts bezeichnet für eine neue Welt, in der alle sein und leben können. Abolish Frontex ist damit Teil der Bedingungen für eine lebensbejahende Welt, die auch der postkolonialen Verantwortung gerecht wird.
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