Intersektionale Perspektive auf die Frontex
Warum der Frontex-Ausbau patriarchale Machtverhältnisse zementiert und welche Rolle dabei Europas koloniale Vergangenheit und der Kapitalismus spielt. Gerade deshalb müssen wir dem Schrei nach Aufrüstung mit solidarischen Forderungen und Antimilitarismus entgegentreten.
Betrachten wir die EU-Grenzschutzagentur Frontex aus einer intersektionalen Perspektive, wird klar, dass Menschen auf der Flucht unterschiedlich von Gewalt betroffen sind. Sich überschneidende Achsen von Unterdrückung, wie beispielsweise Geschlecht, Race, Klasse und sexuelle Orientierung, prägen die Erfahrungen von People on the Move massgeblich. Deshalb ist eine intersektionale Perspektive nötig, um die Gewalt an den Schengenaussengrenzen einzuordnen. Es ist gezielte Gewalt, um Flüchtende von der Einreise in die EU abzuhalten – und sie wirkt unterschiedlich.
- Gewalt an den EU-Aussengrenzen ist vergeschlechtlicht; das heisst sie wird spezifisch gegen verschiedene Geschlechter eingesetzt, mit dem Ziel, Menschen möglichst «effektiv» an der Überquerung der Grenze zu hindern.
- Die Gewalt gegen People on the Move ist rassifiziert insofern sie eingesetzt wird, um Menschen aus dem Globalen Süden davon abzuhalten, ins «Weisse» (1) Europa zu gelangen. Den rassistischen Narrativen zufolge bedeuteten diese nämlich eine Gefahr für die «Leitkultur» und die darin sozialisierten Menschen. Die Idee der Leitkultur legt nahe, dass es einen auf sogenannt «europäischen Werten» basierenden gesellschaftlichen Konsens gäbe, an den sich Nicht-Europäer:innen zu halten haben, wenn sie in Europa leben wollen.
- Die Gewalt der Frontex ist klassistisch, indem die Ausbeutung von Mensch und Natur durch das kapitalistische System nicht als legitimer Grund für Abwanderung anerkannt wird. Menschen, die aus existenzieller Not migrieren, werden als Wirtschaftsflüchtlinge verunglimpft.
Gewalt wird geschlechtsspezifisch eingesetzt
Aus Erfahrungsberichten von Betroffenen und Aktivist:innen wissen wir, dass Frontex-Beamt:innen an den EU-Aussengrenzen bei Festnahmen körperliche sowie psychische Gewalt anwenden, um die Menschen an der Überquerung der Grenze zu hindern («Frontex und die Gewalt an der albanisch-griechischen Grenze»). Diese Abschottungspolitik der EU und den Schengenstaaten hat seit dem Jahr 1993 über 48’000 Tote gekostet. Die Dunkelziffer liegt deutlich höher.
Was aus den Zeug:innenaussagen ebenfalls hervorgeht; die Gewalt ist vergeschlechtlicht. In Interviews schildern Betroffene wie dies vor sich geht. Männlich gelesene Personen werden aus der Gruppe ausgemustert und schliesslich vor den Augen ihrer Frauen, Schwestern, Freundinnen, Bekannten und Kinder verprügelt. Diese Taktik, bei der FrauenundKinder – dieser Begriff verweist darauf, dass Frauen und Kinder in der patriarchalen Logik oft über einen Kamm geschert werden – «verschont» werden, hat System. An den männlich gelesenen Personen wird ein Exempel statuiert, anhand dessen der Rest der Gruppe abgeschreckt werden soll. Andererseits demonstrieren die Frontex-Beamt:innen mit dieser Taktik ihre sogenannt «westlichen Werte», denen zufolge Frauen und Kinder besonderen Schutz verdienen. Männliche Körper hingegen verdienen keinen Schutz. Sie werden dafür missbraucht, um ein Signal zu senden: Ihr seid hier nicht willkommen! Die geschlechtsspezifische Gewaltanwendung dient der Abgrenzung gegenüber den unzivilisierten «Anderen». Der rassistisch-sexistischen Logik zufolge gehört Gewalt gegen Frauen nicht ins «zivilisierte Europa», sondern dahin, woher diese Personen kommen.
Eine Farce ist der Vorwand, Frauen und Kinder zu schützen, auch angesichts der Tatsache, dass Frontex die sogenannt libysche Küstenwache mit Informationen versorgt, mithilfe deren diese Menschen in die Camps in Libyen zurückführt. Dort droht ihnen neben menschenunwürdigen Umständen, Zwangsarbeit, Folter und Kidnapping auch sexualisierte Gewalt – oft mit tödlichen Folgen. Wenn Frontex also vorgibt, FrauenundKinder zu schützen, gilt dies offensichtlich nur auf europäischem Boden. Was danach mit ihnen geschieht, ist nicht das Problem «Europas».
Damit verstetigt Frontex sexistische und rassistische Narrative von schutzbedürftigen Frauen und männlichen Tätern aus dem nicht-Europäischen Raum. Dass sie dabei selbst als Täter(in) agiert und Menschen im Namen von Sicherheit und öffentlichen Wohls angreift, verletzt und tödlichen Gefahren aussetzt, scheint das humanitäre europäische Selbstverständnis nicht zu stören.
Gewalt ist rassistisch
Auch die breite Akzeptanz der Gewalt gegenüber Geflüchteten hat System. Die Geschichte des Kolonialismus zeigt, dass Gewalt im Namen des Fortschritts und zum Schutz liberaler Werte nicht nur geduldet, sondern aktiv ermutigt wird. Die Verteidigung demokratischer Grundwerte, wie beispielsweise die Rechte und Sicherheit sexueller Minderheiten werden dabei als Argumente gegen Einwanderung ins Feld geführt. Diese Verbindung von nationalistischen Ideologien und LGBTQ+ Rechten nennt sich «Homonationalismus». Laut Migrationsgegner:innen stellen männliche Einwanderer aus muslimisch-geprägten Gesellschaften nämlich eine Gefahr für Weisse Europäerinnen sowie LGBTQ+ Personen dar. Sie werden als Belästiger und Vergewaltiger verunglimpft. Es wird somit die Vorstellung erweckt, Gleichberechtigung und der Schutz von sexuellen Minderheiten seien eine westliche Errungenschaft, die es vor den angeblich «unzivilisierten Anderen» zu schützen gelte. Die Tatsache, dass Geschlecht als binäre Kategorie in vielen Weltregionen erst vom Kolonialismus zum Dogma gemacht wurde, bleibt dabei unerwähnt. Dieses Phänomen ist nur eines von vielen Beispielen, wie sich das Weisse Europa davor drückt, seinem kolonialen Erbe ins Gesicht zu schauen. Das Gefährliche an dieser Rhetorik, die weit über das rechte Spektrum hinaus Anklang findet, ist, dass sich ihre Vertreter:innen vorgeblich für den Schutz von Minderheiten und der liberalen Demokratie einsetzen. Damit werden rassistische Narrative gesellschaftsfähig.
Der gegenwärtige Krieg in der Ukraine und die damit verbundenen Fluchtbewegungen sind ein trauriges Beispiel dafür, wie rassistische Politiker:innen die Sicherheit von Frauen dazu missbrauchen, um Stimmung gegen Migration zu machen. Jüngstes Beispiel ist SVP- Fraktionschef Thomas Aeschi. Er forderte, dass «Ausländer, welche in der Ukraine wohnen, aber eben nicht Ukrainer sind» in ihr Heimatland zurückkehren sollten, sodass «Nigerianer oder Iraker mit ukrainischen Pässen» nicht plötzlich 18-jährige Ukrainerinnen vergewaltigten. Ein erdrückendes Beispiel, wie sich Rassismus und Geschlecht als Unterdrückungsmechanismen überschneiden; der Schutz und die Rechte von Weissen Frauen werden dafür missbraucht, um Gewalt gegen und Abschottung vor nicht-Weissen Männer zu legitimieren.
Ein weiteres Beispiel für den dem Migrationsregime unterliegenden Rassismus sehen wir darin, wie mit Weissen Geflüchteten aus der Ukraine umgegangen wird. Massnahmen wie das Bereitstellen öffentlicher Verkehrsmittel oder Initiativen wie jene der Universität Basel, wo Studierende mit einer ukrainischen Staatsbürgerschaft den Unterricht besuchen dürfen, zeigen, dass auch die Schweiz schnell und solidarisch handeln kann. Die Tatsache, dass Schutzbedürfnisse an nationale Zugehörigkeit gekoppelt werden, enttarnt aber die vermeintliche «europäische Solidarität».
Damit ist nicht gemeint, dass Menschen aus der Ukraine keine Unterstützung erhalten sollten. Ganz im Gegenteil. Es ist zu befürworten, dass Ukrainer:innen der sogenannte Schutzstatus «S» so rasch zugesprochen wurde. Demnach erhalten sie ein Aufenthaltsrecht, ohne ein ordentliches Asylverfahren durchlaufen zu müssen. Menschen aus Afghanistan, Syrien, Palästina, Äthiopien und weiteren Regionen, in denen militärische Konflikte seit Jahren anhalten, werden jedoch auf Grund ihrer Herkunft weiterhin kriminalisiert und verfolgt (KKS und der rassistische Migrationsapparat) und als unechte Geflüchtete bezeichnet (Sichere Migrationsrouten für alle – nicht nur in Krisenzeiten, sondern immer!)
Gewalt, um den Wohlstand zu wahren
Nicht-Weisse People on the Move sind Abschottung und Gewalt an den Grenzen weiterhin ausgesetzt. Daraus wird ersichtlich, wer in den Augen des Staates die Solidarität und Unterstützung Europas verdient. Im Namen einer Weissen Leitkultur und zum Schutz der Schweizer Wirtschaft formen Rassismus und Klassismus also eine unheilige Allianz, die Fluchtgründe in legitim und parasitär unterteilen. An dieser Stelle sei erwähnt, dass Menschen aus Osteuropa ebenfalls Diskriminierung erleben und Vorurteilen ausgesetzt sind. Die Bezeichnung Weiss bezieht sich nicht auf die Hautfarbe einer Person, sondern steht sinnbildlich für die Privilegien, die nicht von Rassismus betroffene Menschen erfahren.
Seit ihrer Gründung im Jahr 2004 ist das Budget von Frontex von 6 Millionen Euro um 7000 Prozent gestiegen und soll für den Zeitraum von 2021-2027 ganze 5.6 Milliarden Euro betragen. Investiert wird in Überwachungssysteme und die Aufrüstung an der Grenze. Doch wer wird dadurch eigentlich geschützt? Sind es tatsächlich Weisse Europäer:innen und «unsere» demokratischen Werte, wie die SVP und Bürgerliche behaupten? Können Einreisebeschränkungen tatsächlich terroristische Anschläge verhindern, wenn diese hauptsächlich von in Europa sozialisierten Menschen verübt werden? Oder geht es am Ende etwa doch darum, den Wohlstand von «Herr und Frau Schweizer» zu schützen?
Das Argument, das Schweizer Sozialsystem dürfe keine «falschen Anreize» für Asylsuchende schaffen, wird von Politiker:innen von Aussen rechts über Mitte und GLP bis hin zu Vertreter:innen der Sozialdemokratie ins Feld geführt. Die bürgerlichen Parteien befürworten ein sogenannt anreizorientiertes Finanzierungssystem für Geflüchtete und vorläufig aufgenommene Personen. In anderen Worten: People on the Move sollen ihren Willen und Fähigkeit zur Integration erst einmal beweisen. Statt geflüchteten Menschen beispielsweise durch den Ausbau der Sozialversicherungen Schutz und Perspektiven zu bieten, investiert die Schweizer Politik bis ins Jahr 2027 lieber 61 Millionen Franken in den Frontex-Ausbau. Das sind ganze fünf Prozent des Gesamtbudgets der Agentur. Eine Vervielfachung des jährlichen Beitrags, den die Schweiz bisher leistete. Dieses Geld könnte auch anders eingesetzt werden; in die Schaffung legaler Migrationsrouten und die Bekämpfung von Fluchtursachen zum Beispiel.
Geradezu zynisch mutet deshalb das «überzeugte JA zum Freiheits-, Friedens- und Menschenrechtsprojekt Europa» der Operation Libero an. In ihrer Kampagne fordert der liberale Think Tank die offizielle Schweiz dazu auf, Verantwortung zu übernehmen, indem man Schengen und Frontex mitpräge. Statt Finanzmittel in eine inklusive und entkriminalisierende Sozialpolitik zu investieren, setzen sie sich dafür ein, noch mehr Geld in die Aufrüstung des Grenzschutzes zu buttern. Dabei bedienen sich die selbstbezeichneten «Liberos» und «Liberas» einer patriarchalen Militärlogik, der zufolge Abschottung an den EU-Aussengrenzen zu mehr Freiheit, Sicherheit und Recht führt. Wessen Rechte dabei gemeint sind, lassen die Initiant:innen dabei (bewusst?) ausser Acht.
Langfristige und gewaltfreie Lösungen
Wie gesagt: Gewalt hat viele Gesichter. Eine intersektionale Perspektive auf die Agentur Frontex lehrt uns, dass Menschen in unterschiedlicher Weise von deren Gewalt betroffen sind. Das gilt nicht nur für die gewalttätigen Handlungen an der Grenze, sondern auch für Fluchtursachen. Eine feministische Analyse des Migrationsregimes zeigt ausserdem, wie Politik und Gesellschaft mit diesen Themen umgehen. Sie verdeutlicht, dass staatlich finanzierte Institutionen ihr Gewaltmonopol gezielt einsetzen, um politische Ziele zu erreichen. Aus einer feministischen und antirassistischen Perspektive kann deshalb nur ein Schluss gezogen werden: Die Schweiz muss sich dringend aus der Finanzierung und personellen Unterstützung von Frontex zurückziehen.
Die Anti-Migrations Rhetorik wird von rassistischen und sexistischen Argumenten untermauert, während die aus Kolonialismus und Kapitalismus entstandene Ungleichheit als Ursache ignoriert wird. Das Argument, es handle sich beim Frontex-Referendum um eine sicherheitspolitische Diskussion, dürfen wir nicht akzeptieren. Migration als Gefahr für die Sicherheit Europas darzustellen, ist rassistisch. Aus feministischer Sicht ist zudem klar, dass sich die Militarisierung der Gesellschaft in jedem Fall negativ auf die Rechte von LGBTQ+ Menschen und Frauen auswirkt. Einer militaristischen Logik zufolge gehören Konflikte zur Menschlichen Natur, weshalb es bewaffnete Streitkräfte brauche, um diese zu lösen. Insofern militärische Gewalt vorwiegend von Männern ausgeübt wird, während FrauenundKinder sowie als feminin dargestellte sexuelle Minderheiten als schutzbedürftig gelten, werden so patriarchale Machtverhältnisse zementiert.
Treten wir dem Aufschrei nach mehr Aufrüstung deshalb vereint entgegen und fordern stattdessen Bewegungsfreiheit für alle und die Entmilitarisierung der Grenzen und der Gesellschaft. Einzig und allein das Errichten von legalen Migrationsrouten und solidarischer Infrastruktur kann besonders verletzliche Personen vor Gewalt schützen. Als Gesellschaft müssen wir die vielfältigen Ursachen von Fluchtbewegungen bekämpfen. Die dem kapitalistischen System zugrundeliegende Unterdrückungsmechanismen wie Geschlecht, Race, Klasse und sexuelle Orientierung anzuerkennen, ist ein erster Schritt, um deren Auswirkungen zu reduzieren.
(1) Der Begriff Weiss macht hier auf die die rassisierten Begriffe «Schwarz» und «Weiss» aufmerksam, und wie diese die Gesellschaft in asymmetrischen Machtverhältnissen organisieren, in denen die Weissen systematisch überlegen sind und schwarze Menschen auf eine niedrigere Stufe gestellt werden.