Kirchen gegen den Ausbau von Frontex
Wer am 15. Mai mit NEIN stimmt, stimmt für einen Paradigmenwechsel – eine biblische und theologische Argumentation.
Seit vielen Jahren baut die europäische Migrationspolitik auf einer Logik der Angst auf und betrachtet Migration als eine Bedrohung, als eine Gefahr, die es zu bekämpfen gilt. Der vorrangige Ansatz ist daher sicherheitsorientiert und repressiv. Dieser Ansatz wird seit langem beibehalten und immer wieder verstärkt, obwohl er erwiesenermassen keine Lösung darstellt.
Die Stärkung von Frontex ist Teil dieser Logik. Sie trägt zu einer übermässigen Militarisierung der Grenzen bei und macht aus Europa immer mehr eine Festung. Die Feinde dieser Festung Europa sind die Migrantinnen und Migranten, die auf ihrer Suche nach Zuflucht und Schutz gezwungen werden, immer gefährlichere Fluchtwege zu wählen.
Um diesen «Krieg» zu führen, operiert Frontex nicht nur innerhalb der europäischen Länder und an den Aussengrenzen Europas, sondern auch in einer wachsenden Anzahl von Drittländern, wodurch das europäische Migrationsregime zunehmend ausgelagert wird. So arbeitet Frontex aktiv mit mehr als zwanzig Ländern ausserhalb der Europäischen Union zusammen, auf dem Balkan, in Nordafrika, kürzlich mit Senegal und, im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine, mit Moldawien. Im Mittelmeerraum arbeitet sie insbesondere mit der sogenannten libyschen Küstenwache zusammen, die Boote mit flüchtigen Menschen abfängt und sie gewaltsam nach Libyen zurückbringt, wo sie unter massiver Gewalt festgehalten werden.
«Fürchtet euch nicht!»
«Fürchtet euch nicht!» Dieser Aufruf, der mehr als fünfzig Mal durch die Bibel hallt, stimmt mit der Volksweisheit überein, die betont, dass Angst ein schlechter Ratgeber ist. Er fordert uns auf, anders als durch Ausgrenzungs- und Abschottungsreflexe an unseren Ängsten zu arbeiten. Er ruft uns dazu auf, sie gelassener zu betrachten, um sie zu einer konstruktiven Herausforderung, einer Schule des Mutes und der Offenheit zu machen. In der Falle der Angst gefangen, schliessen wir uns in Festungen ein, suchen Schutz hinter Mauern, Zäunen und Stacheldraht. Wie der Hebräerbrief (Hebr 13,12-13) betont, starb Jesus jedoch «ausserhalb der Stadtmauern», sodass wir aufgerufen sind, «hinauszugehen, um ihm ausserhalb des befestigten Lagers zu begegnen». Dieses Hinausgehen aus dem befestigten Lager fordert uns auf, den sicherheitsorientierten und repressiven Ansatz der Migration, der so viele Menschen das Leben kostet, zu verlassen und einen anderen Ansatz in Betracht zu ziehen.
Gastfreundschaft, eine evidente Pflicht!
Dieser andere Ansatz wird im Hebräerbrief als Gastfreundschaft bezeichnet. In Anspielung auf den Patriarchen Abraham, der die drei Fremden, die ihn besuchen und sich als Boten Gottes erweisen sollten, grosszügig aufnimmt (1. Mose 18), ermahnt er uns: «Vergesst die Gastfreundschaft nicht, denn durch sie haben einige, ohne es zu wissen, Engel beherbergt.» (Hebr 13,2)
Natürlich: Wer von Engeln spricht, setzt sich leicht der Kritik aus: Diejenigen, die sich als Realisten verstehen, werden uns der Engelsgläubigkeit und der Naivität bezichtigen. Aber in einem ganz bestimmten Sinn müssen wir diese Naivität für uns beanspruchen: Dieses Adjektiv stammt vom lateinischen nativus, «eingeboren», und bedeutet daher zunächst einmal «natürlich, arglos, selbstverständlich». Es hat etwas ganz Selbstverständliches, etwas ganz Unbefangenes, wenn die Grundrechte eines jeden Menschen, wer immer er auch sein mag, geachtet werden. Früher sprach man vom Naturrecht, und so muss man in diesem Sinne die Naivität eines Rechts verteidigen, das nicht verletzt werden darf.
Zu viele Verletzungen der Grundrechte!
Geben wir drei Beispiele:
- «Jeder Staat verpflichtet den Kapitän eines seine Flagge führenden Schiffes, soweit der Kapitän ohne ernste Gefährdung des Schiffes, der Besatzung oder der Fahrgäste dazu imstande ist, jeder Person, die auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu leisten.» (Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, 1982, Art. 98)
- «Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu geniessen.» (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, 1948, Art. 14)
- «Keiner der vertragschliessenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.» (Genfer Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 1951, Art. 33)
Das sind drei Rechtsgrundsätze, die man als naiv oder selbstverständlich bezeichnen könnte. Die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex scheint sie jedoch zu ignorieren und verstösst regelmässig gegen diese Prinzipien. Aufnahmen belegen, dass Frontex oft dabei ist, wenn nationale Küstenwachen Bootsmotoren zerstören und Flüchtlinge ihrem Schicksal auf See überlassen. Die Agentur assistiert, ohne einzugreifen, oder schlimmer noch: In vielen Fällen ist sie selbst an illegalen Abschiebungen beteiligt. Indem man den Flüchtenden nicht zu Hilfe kommt oder sie gewaltsam abwehrt, werden sie daran gehindert, einen Asylantrag zu stellen, und werden in Gebiete zurückgedrängt, die für ihr Leben und ihre Freiheit gefährlich sind, wie Libyen mit seinen Folter- und Vergewaltigungslagern. Frontex ist dafür mitverantwortlich, da sie davon weiss und sogar in komplizenhafter Weise daran teilnimmt.
Solange die genannten Rechtsgrundsätze nicht Teil eines Ethikkodexes der Frontex-Agentinnen und -Agenten sind und solange keine Instanzen zur rechtlichen Kontrolle ihrer Einsätze wirksam sind, ist die Beteiligung an der massiven Ausweitung dieser Agentur in Bezug auf Waffen und Personal nicht mit der Schweizer Verfassung vereinbar. Für die Schweiz gibt es keinen Grund, Menschenrechtsverletzungen zu finanzieren. Umso haltloser ist die Idee, diese finanzielle Beteiligung der Schweiz noch zu vervielfachen. Und dies in einem Moment, wo die europäischen Instanzen drohen, die Finanzierung von Frontex einzufrieren, weil verschiedene Untersuchungen in Europa, insbesondere durch das Betrugsbekämpfungsorgan der Europäischen Union (OLAF), schwere Missstände in der Leitung der Agentur aufdecken, wie die Unterschlagung von Beweisen, die illegale Abschiebungen belegen (vgl. www.frontex-leaks.ch).
«Was an den europäischen Grenzen geschieht, ist rechtlich und moralisch inakzeptabel und muss aufhören», sagte Filippo Grandi, der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, am 21. Februar 2022. Diese rechtlichen und moralischen Lücken können die Kirchen nicht gleichgültig lassen. Ein rechtlich und ethisch würdiger Grenzschutz bedeutet, Menschen in Not zu retten, egal wer sie sind, ihr Leben und ihre Freiheit vor jeder Gefahr zu schützen, ihnen sichere Fluchtwege und einen fairen Zugang zu einem Schutzgesuch zu garantieren.
Mit Philoxenie Geflüchtete aufnehmen!
Wenn wir am 15. Mai mit NEIN stimmen, plädieren wir also für einen Paradigmenwechsel: Anstatt sich in einer Logik der Abschottung, Ausgrenzung und Repression zu verfangen, die keine Lösung bringt, müssen wir uns für eine konstruktive Aufnahmepolitik einsetzen, die auf die Menschenwürde aller, und vor allem der Wehrlosen, bedacht ist. Es ist nicht natürlich, dass der Schutz der Grenzen durch den Nichtschutz von Menschen erreicht werden soll. Es ist nicht natürlich, dass im Namen der Festung Europa das Mittelmeer zu einem Massengrab wird, wo Tausende von Opfern hingenommen werden, indem sie zu Nicht-Personen gemacht werden.
Der griechische Begriff, der in der zitierten Passage aus dem Hebräerbrief mit «Gastfreundschaft» übersetzt wird, ist philoxenia, wörtlich: «die Liebe zum Fremden». Diese «Liebe zum Fremden» basiert auf dem Prinzip, dass wir alle «Fremde und Wanderer auf der Erde» sind (Hebräer 11,13), und steht im Gegensatz zur Xenophobie, der «Angst vor dem Fremden», die alle unsere Debatten über Migration überschattet, weil sie immer wieder Spiralen der Spaltung und Ausgrenzung erzeugt.
In 3. Mose 19,33–34 wird diese Haltung der Gastfreundschaft gegenüber Fremden wie folgt erläutert: «Wenn ein Fremder bei dir lebt in eurem Land, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Wie ein Einheimischer soll euch der Fremde gelten, der sich bei euch aufhält. Und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde gewesen im Land Ägypten. Ich bin der Herr, euer Gott.»
Unser Geld sollte dazu dienen, Menschen in Gefahr aufzunehmen, anstatt sie abzuschieben. Aufgrund ihrer humanitären Tradition muss die Schweiz auf der Seite der Opfer stehen. Eine einfache Rechnung macht deutlich, was auf dem Spiel steht: Mit 61 Millionen Franken als jährlichem Schweizer Beitrag an Frontex könnte ein Rettungsschiff auf dem Mittelmeer 14 Jahre lang finanziert werden!
Was lehrt uns der Empfang der Ukrainerinnen und Ukrainer?
Wir sind zutiefst erschüttert über die russische Invasion in der Ukraine und unsere Gedanken sind bei allen Opfern. Wir sind berührt von der enormen Welle der Gastfreundschaft und Solidarität gegenüber Familien, die vor den Schrecken des Krieges geflohen sind. Dies zeigt uns, dass es möglich ist, eher Menschen als Grenzen zu schützen, und dass es möglich ist, rasch vielfältige Aufnahmekapazitäten zu entwickeln, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich.
Aber was wird in der Zwischenzeit mit all den anderen geschehen, die ebenfalls vor Gewalttaten und Bomben (die manchmal vom selben Autokraten abgeworfen werden…) fliehen und versuchen, auf gefährlichen Exilwegen in Europa Zuflucht zu finden? Die grosszügige Aufnahme sollte auch für Vertriebene und Verfolgte aus anderen Krisen- und Kriegsgebieten gelten. Doch diese Menschen sitzen an den Aussengrenzen der Europäischen Union fest, in Lagern mit unsäglichen Lebensbedingungen und ohne Aussicht auf eine Zukunft. Dabei haben sich viele Städte und Gemeinden bereit erklärt, solche Menschen aufzunehmen, die weiter von unseren Kulturen entfernt sind und uns daher umso mehr in unserer Gastfreundschaft herausfordern.
Die grosse Welle der Solidarität für die Ukrainerinnen und Ukrainer, die vor dem Krieg in ihrem Land fliehen, legt den oben gewünschten Paradigmenwechsel noch einmal nahe. Denn sie hat gezeigt, dass eine grosszügige Aufnahme für alle Menschen schnell realisierbar ist.
Und die Schengen-Abkommen?
Die Befürworterinnen und Befürworter des im letzten Herbst vom Parlament beschlossenen Gesetzes behaupten, ein NEIN am 15. Mai würde dazu führen, dass die Schweiz automatisch aus dem Schengen-Raum ausgeschlossen wird. Dieses irreführende Argument zielt in erster Linie darauf ab, Angst zu schüren und vom eigentlichen Problem abzulenken. Dieses Risiko könnte nur dann bestehen, wenn die Schweiz die EU-Richtlinie schlicht und einfach ablehnen würde. Es ist jedoch weder das erste noch das letzte Mal, dass sich die Schweiz Zeit lässt, um eine EU-Richtlinie neu zu diskutieren, umzuformulieren und zu bestätigen, und so die vorgegebene Frist von zwei Jahren zu überschreiten. Die Frist ist übrigens seit November bereits überschritten, und die Schweiz ist nicht ausgeschlossen!
Ein NEIN am 15. Mai würde es der Schweiz ermöglichen, ihren Beitrag zu Frontex neu zu verhandeln und ihn an rechtliche und ethische Anforderungen zu knüpfen. So könnte sie Europa dazu aufrufen, die Gewalt an seinen Grenzen zu bekämpfen, anstatt sie aus rein sicherheitspolitischen Gründen zu tolerieren. Denn Europa verstösst auch gegen Abs. 2 von Art. 98 des Seerechtsübereinkommens: «Alle Küstenstaaten fördern die Errichtung, den Einsatz und die Unterhaltung eines angemessenen und wirksamen Such- und Rettungsdienstes.» Frontex unterstützt zwar aktiv die Ausweitung der Luftüberwachung im Mittelmeer. Doch gleichzeitig wurden die offiziellen Such- und Rettungsmissionen kontinuierlich reduziert oder gar abgeschafft. Diese Arbeit wird seit langem NGOs überlassen, und zwar ohne jegliche Unterstützung. Schlimmer noch: indem man ihnen ständig Steine in den Weg legt, sie beschuldigt, auf der Seite der Schlepper zu stehen, und ihre Boote beschlagnahmt. Seit 1993 hat die europäische Abschottungspolitik mehr als 48′000 Menschen das Leben gekostet, wobei die sehr grosse Dunkelziffer noch gar nicht mitgerechnet ist.
Nur ein NEIN am 15. Mai lässt auf irgendeine Veränderung hoffen.
Eine Stimme der Kirchen
Das Referendum ermöglicht es, eine Diskussion in Gang zu setzen, die schon lange hätte stattfinden sollen. Aus diesem Grund haben wir beschlossen, in der Debatte über Frontex eine Stimme der Kirchen zu erheben. Es ist unsere Pflicht als Christinnen und Christen, jeden Menschen in seiner Würde zu achten und ihn entsprechend zu behandeln. Auch über die Abstimmung am 15. Mai hinaus müssen wir daher gemeinsam ein klares Zeichen gegen eine menschenverachtende Migrationspolitik setzen. Dies sind unsere Überzeugungen:
- Alle Menschen sind nach dem Bild Gottes geschaffen und müssen daher in ihrer Würde bedingungslos geschützt werden.
- Vor Gott gelten die Grundrechte für alle Menschen gleichermassen.
- Diese Menschenrechte sind nicht verhandelbar.
Als Christinnen und Christen, als Kirchen, dürfen uns die Menschenrechtsverletzungen, die regelmässig an den Aussengrenzen Europas stattfinden, nicht gleichgültig lassen. Wir müssen gegen diese katastrophale Situation Stellung beziehen. Deshalb werden wir am 15. Mai NEIN zur Ausweitung von Frontex sagen