Sichere Migrationsrouten für alle – nicht nur in Krisenzeiten, sondern immer!
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine treibt hunderttausende Menschen in die Flucht. Die aktuelle Situation zeigt klar: Wir brauchen offene und sichere Migrationsrouten – und antirassistische Solidarität.
Tausende Menschen flüchten vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. In vielen europäischen Ländern geht ein solidarischer Ruck durch die Bevölkerung – gefühlt europaweit ertönt die Forderung, rasch und gemeinsam für die Aufnahme ukrainischer Kriegsgeflüchteter zu sorgen. Über 20’000 Menschen gingen am Samstag in Bern gegen den Krieg auf die Strasse und forderten neben dem Ende des russischen Angriffs auch Solidarität mit allen vom Krieg Betroffenen. Was für ein Zeichen. Angesichts eines eskalierenden Krieges in Europa scheint plötzlich das Unmögliche möglich: die EU-Kommission hat den Ländern in der Region (sprich Polen und weiteren Nachbarstaaten) bereits finanzielle Unterstützung und die Kompetenz von Frontex angeboten, um dabei zu helfen, Flüchtende aus der Ukraine unterzubringen. Die polnische Regierung hat auf das Angebot positiv reagiert und durchblicken lassen, dass sie die Hilfe von Frontex bei der Unterbringung und Betreuung in Anspruch nehmen will. Das zeigt auf, wohin das Geld, das Frontex in Militarisierung investiert, eigentlich fliessen könnte: in solidarische Infrastruktur, die ein würdiges Leben für alle garantiert, die sich entscheiden (müssen), ihren Wohnort zu verlassen.
Für NoFrontex ist klar: Wir brauchen offene und sichere Migrationsrouten, nicht nur in Krisenzeiten, sondern immer. Als NoFrontex unterstützen wir den Aufruf vollumfänglich, rasch und gemeinsam für die Aufnahme ukrainischer Kriegsgeflüchteter zu sorgen. Gemeinsam mit zahlreichen Einzelpersonen, Netzwerken und Organisationen fordern wir das in einem offenen Brief von der Bundesrätin Karin Keller-Sutter. Es braucht Korridore der Solidarität!
Alles gut also? Mitnichten!
Doch das reicht nicht. Das wir heute überhaupt darüber diskutieren müssen, ob und wie viele und vor allen welche Menschen aus der Ukraine allenfalls in den Schengen-Raum oder in die Schweiz kommen dürfen, zeigt auf, an welchem Punkt wir angelangt sind. Der Normalzustand des EU-Migrationsregimes ist unerträglich und inakzeptabel: Stacheldraht und Abschottung sind Alltag. Menschen werden entlang rassistischer Kategorien und kapitalistischer Logik als Gefahr und Feind betrachtet und behandelt. Im Krisenfall werden abstrakte Kontingentspakete geschnürt. Noch im Herbst wurden zudem tausende Menschen, die von Belarus in Richtung Europa reisten, in ebenjener Grenzregion brutal abgewiesen – in unmittelbarer Nähe von dort, wo sich jetzt tausende Ukrainer:innen in Sicherheit bringen, von derselben Grenzbehörde, die sich jetzt als humanitäre Institution präsentiert. Der Aufschrei der Öffentlichkeit blieb weitgehend aus. Es waren Menschen aus dem Irak, dem Jemen und anderen Ländern – sie wurden rassistisch motiviert zurückgepusht, mit teils tödlichen Folgen. Politiker:innen aus ganz Europa, aber beispielsweise auch Frontex-Direktor Fabrice Leggeri selber, stellten sich damals hinter das brutale Vorgehen der polnischen und litauischen Sicherheitskräfte.
Es ist eine wichtige Entwicklung, dass nun schnell und mehrheitlich unbürokratisch Fluchtwege geschaffen werden. Doch was heute möglich ist, das muss auch morgen möglich sein – und nicht nur für *weisse* Europäer:innen, sondern für alle. Die rassistische Kategorisierung von Flüchtenden zeigt sich nicht nur in der ungleichen Reaktion Europas auf die Fluchtbewegungen vom Herbst und jenen von heute. Sie wiederholt sich selbst in diesem Moment: Derzeit häufen sich die Berichte von in der Ukraine lebenden Afrikaner:innen, die von verstörender Diskriminierung an der Grenze zu Polen berichten. Sie werden zurückgewiesen, teils mit vorgehaltener Waffe zurückgedrängt. Unter dem Hashtag #AfricansInUkraine finden sich dutzende Berichte von Betroffenen. Rassistische Segregation inmitten einer von Krieg ausgelösten Massenflucht. Zudem gehen die gewalttätigen Pushbacks in der Ägäis unvermindert weiter und in Libyen sitzen weiterhin Tausende in schrecklichen Lagern fest, oft mithilfe von Frontex an der Überfahrt nach Europa gehindert. Hinzu kommen Aussagen von Politiker:innen und mediale Berichterstattung, die von Rassismus triefen: Die Solidarität und das Mitgefühl gilt dabei ganz explizit den flüchtenden Europärer:innen «mit blonden Haaren und blauen Augen.» Und auch die NZZ wird ihrem Ruf gerecht und stimmt in den rassistischen Tenor ein: echte Flüchtlinge seien es diesmal, vermeintliche Flüchtlingen waren es früher. Was wir gerade erleben ist die rassistische EU-Migrationspolitik in a Nutshell: Egal an welcher Grenze oder in welcher Situation, rassifizierte Personen sind auf dem Weg nach Europa systematischer Diskriminierung ausgesetzt.
Kriegsgesellschaft abschaffen, von unten her vernetzen
Der Angriffskrieg von Putin und seinen Gefolgsleuten und seine Folgen können nicht isoliert betrachtet werden. Er reiht sich in eine Welt ein, die von Aufrüstung und Wettbewerb geprägt ist. Patriarchale und chauvinistische Politiker befördern Nationalismen und Kriege. Auch dieser Krieg wurde vom anhaltenden Wettrüsten befeuert. Wer nun Aufrüstung fordert oder gar wie Deutschland massive Aufrüstungspläne im Umfang von 100 Milliarden Europa bekannt gibt, folgt dieser Logik. Mehr Waffen haben noch nie für friedlichere Verhältnisse gesorgt. Deshalb braucht es Solidarität, Widerstand und Vernetzung von Unten, die in ihren Forderungen nicht bei diesem Krieg aufhören, sondern sich für einen gesellschaftlichen Gegenentwurf einsetzen, der kriegerischer Eskalation, Nationalismus und Abschottung den Nährboden entzieht. Das gilt auch für Migrationskämpfe und ihre Forderungen: die hören nicht dabei auf, Bewegungsfreiheit für alle zu fordern, sondern bedeuten natürlich auch, Fluchtursachen zu verhindern und Migration als Tatsache zu verstehen. Krieg ist eine von vielen Migrationsursachen. Alle dieser Migrationsgründe sind legitim. Unsere Solidarität gilt deshalb allen Menschen – ob sie gerade aus der Ukraine flüchten, in Libyen für ihre Rechte kämpfen oder sich nach der Ankunft in Europa durchschlagen.
Frontex und Krieg
Doch was hat das alles mit Frontex zu tun? Frontex und Krieg sind zwei Seiten derselben Medaille. Im Auftrag der EU riegelt Frontex die Schengen-Grenzen für Migrant:innen mit militärischer Infrastruktur ab und führt einen Krieg gegen Migration. Die EU-Grenzschutzagentur ist mit immer mehr Personal und einer wachsenden Flotte Teil der Aufrüstungsspirale und folgt einer patriarchalen Militärlogik. Sie arbeitet dafür mit ebenjenen Akteur:innen zusammen, die an der Aufrüstung verdienen oder vor denen Menschen fliehen, und schottet die EU-Aussengrenzen gegen Menschen ab, die unter anderem von militärischen Konflikten vertrieben werden, in denen Europa fleissig mitmischt. Damit muss endlich Schluss sein. Wir brauchen sichere Fluchtwege statt Drohnen, eine Gesellschaft der Vielen statt Abschottung, Rettungsboote statt Frontex.
Mehr denn je fordern wir die Entmilitarisierung des Grenzregimes und Bewegungsfreiheit für alle. Gerade deshalb setzen wir uns weiterhin gegen Frontex ein. Wir hoffen, dass die Solidarität mit den Betroffenen in der Ukraine eine solidarische Welle auslöst, die alle miteinschliesst und sich nicht nur in Konflikten zeigt, die «vor unserer Haustür» stattfinden.